von Volker Seifert
Im 18. Jahrhundert, einer Epoche des intellektuellen Wandels, wurde Natürlichkeit zu einem zentralen ethischen und ästhetischen Ideal. Jan von Breverns Buch „Das natürliche Kunstwerk“ beleuchtet diesen Diskurs auf faszinierende Weise, indem es die Bedingungen und Widersprüche untersucht, unter denen Kunstwerke als „natürlich“ wahrgenommen wurden. Die Frage, warum Natürlichkeit an Kunstwerken gefordert wurde und wie diese Forderung umgesetzt werden konnte, zieht sich wie ein roter Faden durch die reichhaltige Studie.
Von Brevern zeigt, dass Natürlichkeit im 18. Jahrhundert nicht nur ein ästhetischer Anspruch war, sondern auch eine Reaktion auf das philosophische Verständnis von Natur als unerreichbarem Zustand und Geschichte als unaufhaltsamem Prozess. Diese Konzeption von Natur als „Nullpunkt der Kultur“ führte zu einer Sehnsucht, Natürlichkeit als Ziel der „zweiten Natur“ zu gestalten. Schiller sah hierin ein höheres Bewusstsein, das nicht durch Nachahmung der Natur, sondern durch die Schaffung einer eigenen künstlerischen Natur erreicht werden konnte.
Besonders beeindruckend ist von Breverns Analyse der „künstlichen Wildnis“ in Rousseaus Julie oder die neue Héloïse. Der Garten, den die Protagonistin anlegt, wird zum Modellfall des „natürlichen Kunstwerks“, das Natur in einen ästhetischen Gegenstand übersetzt, ohne dabei seine künstliche Herkunft zu verbergen. Diese Gratwanderung zwischen dem Eindruck von Natur und dem Erkennen der Kunst dahinter bildet ein zentrales Paradox, das von Brevern mit großer Präzision und Klarheit beschreibt.
Im zweiten Kapitel widmet sich von Brevern Loutherbourgs Eidophusikon, einem Mechanismus, der Landschaften mit Licht- und Toneffekten animierte. Dieses Beispiel zeigt, dass die Wahrnehmung von Natürlichkeit nicht allein durch das Ergebnis, sondern auch durch das Wissen um die Technik dahinter geprägt wurde. Hier wird deutlich: Natürlichkeit entsteht nicht durch das Verbergen von Mechanik, sondern durch deren Integration in ein ästhetisches Erlebnis.
Ebenso aufschlussreich ist von Breverns Untersuchung von Gemälden, die das Verhältnis von Natur und Technik thematisieren, wie Loutherbourgs An Avalanche oder Williams' A View of the Iron Bridge. Diese Werke verdeutlichen, wie Natürlichkeit im 18. Jahrhundert ästhetisch und konzeptuell verhandelt wurde – als ein Spannungsverhältnis zwischen kultureller Konstruktion und natürlicher Selbstverständlichkeit.
Das Buch schließt mit einer Reflexion über die „natürliche“ Malweise, die von Brevern als Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers und nicht als bloße Anpassung an den Gegenstand verstanden wird. Besonders spannend ist die Erkenntnis, dass Natürlichkeit im 18. Jahrhundert nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas zu Erlernendes galt – ein Prozess, der sowohl Kreativität als auch Disziplin erforderte.
Von Breverns Stil, reich an Beispielen und doch mühelos lesbar, macht das Buch zu einer intellektuellen Reise, die zum Nachdenken anregt. Die Verbindung von theoretischer Tiefe und erzählerischer Leichtigkeit macht diese Studie zu einem echten „Garten der Gedanken“, in dem sich die Leser gern verlieren. Sein Buch ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Natürlichkeit nicht nur ein philosophisches Ideal, sondern auch eine künstlerische Leistung sein kann.
Jan von Brevern: Das natürliche Kunstwerk: Zur Ästhetisierung von Natürlichkeit im 18. Jahrhundert.
Verlag: Konstanz University Press, 2023