Von Volker Seifert
Heinz Staudingers „Goethe auf dem Strohsack“ ist eine ungewöhnliche, geradezu subversive Annäherung an den Titanen der deutschen Klassik. Was auf den ersten Blick wie ein akademischer Versuch anmutet, den Dichterfürsten von seinem Marmorsockel zu holen, entpuppt sich als liebevoll ironisches Porträt eines Menschen, dessen Alltagsleben und inneren Widersprüche uns näher sind, als wir zugeben wollen.
Ein Goethe ohne Pathos
Der Autor entzieht Goethe den Glanz der idealisierten Weimarer Schaffensjahre. Stattdessen präsentiert er uns einen Mann, der auf einem Strohsack ruht – ein Bild der Demut, fast der Verlorenheit. Es ist ein Goethe, der nicht in ewigen Versmaßen spricht, sondern leise über die Widersprüche seines Lebens grübelt: über die Kluft zwischen Streben und Scheitern, zwischen Genialität und Menschlichkeit.
Dieser Ansatz könnte leicht in banalem Revisionismus enden, doch Staudinger gelingt es, das Pathos zu vermeiden. Sein Goethe ist nicht nur der Übermensch, sondern der Fragende, der Zweifelnde. Das Strohsack-Motiv steht für die Vergänglichkeit des Genies, für die Alltäglichkeit selbst großer Geister. Mit feinem Gespür für Details schildert er Goethes exzessive Seiten – von seinen ausgelassenen Festen bis hin zu seinen Eskapaden, die Weimars höfische Gesellschaft gleichermaßen faszinierten wie schockierten.
Sprachlicher Minimalismus und Schärfe
Staudingers Sprache ist klar, beinahe spröde, doch gerade darin liegt ihre Kraft. Ohne große Rhetorik zeichnet er Bilder von Goethes Lebenswirklichkeit: den engen Gassen Weimars, dem frostigen Arbeitszimmer, der Zerrissenheit zwischen Hofpflichten und der Sehnsucht nach Italien. Die Schlichtheit der Worte kontrastiert mit der Größe der Figur und schafft eine erstaunliche Intimität.
Besonders beeindruckend ist, wie Staudinger kleine, alltägliche Szenen zu symbolträchtigen Momenten verdichtet.
Humor und Ironie
Doch „Goethe auf dem Strohsack“ ist nicht nur ernsthaft, sondern auch überraschend humorvoll. Staudinger durchleuchtet die Diskrepanz zwischen Goethes Selbstinszenierung und der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen mit spitzfindigem Witz. Die Metapher des „Strohsacks“ verweist sowohl auf Goethes sinnliche Leidenschaft als auch auf seine Erdverbundenheit. Goethe wird bei Staudinger nicht verklärt, sondern entzaubert: als ein Mann, der ebenso von seinen Schwächen geprägt war wie von seinem Genius. Diese Entzauberung jedoch mindert nicht seine Größe, sondern macht ihn vielmehr greifbarer und nachvollziehbarer.
Dieser subtile Humor verhindert, dass die Darstellung ins Melodramatische abgleitet. Staudinger hat keine Angst, den großen Dichter gelegentlich augenzwinkernd zu demontieren, nur um ihn im nächsten Moment wieder mit Respekt aufzubauen.
Ein zentraler Verdienst des Buches ist, dass Staudinger die Ambivalenz von Goethes „liederlichen Jahren“ offenlegt. War Goethe tatsächlich ein hedonistischer Lebemann oder war sein Verhalten eine Flucht vor der Bürde seines Talents und seiner gesellschaftlichen Pflichten? Staudinger vermeidet einfache Antworten, sondern lädt den Leser ein, diese Frage für sich selbst zu ergründen.
Besonders erhellend ist die Betrachtung von Goethes Verhältnis zur Natur und zur Jagd. Staudinger zeigt, wie diese Aktivitäten für Goethe nicht nur Vergnügen, sondern auch Reflexion und Inspiration boten.
Fazit
Heinz Staudingers „Goethe auf dem Strohsack“ ist ein feinfühliges, kluges Werk, das Goethe nicht als überzeitliches Denkmal, sondern als lebendigen Menschen zeigt. Es ist keine biografische Chronik, sondern eine poetische Meditation über die Spannung zwischen Größe und Alltag.
Für Liebhaber Goethes bietet das Buch eine frische Perspektive, für Skeptiker einen Zugang zu seiner Menschlichkeit. Und für alle anderen ist es ein Beweis dafür, dass die großen Geister der Vergangenheit nicht auf Sockeln, sondern auf Strohsäcken lebendig werden können.
Heinz Staudinger: Goethe auf dem Strohsack. Die liederlichen Jahre in Weimar.
Hanau: Haag+Herchen, 2023
Heinz Staudinger, Jg. 1938, Forstmann aus Franken, die meiste Zeit im Spessart tätig, zuletzt als Leiter des Forstamtes Lohr am Main. Befaßt sich seit Jahren mit Fragen der Jagd- und Forstgeschichte, vor allem mit bemerkenswerten Gestalten aus Jagd und Wilderei.
Die Ergebnisse seiner Arbeit hat er in den Münchener Forstlichen Forschungsberichten, im Aschaffenburger Jahrbuch und in den Zeitschriften Spessart, Frankenland, Wild und Hund veröffentlicht. Mit seinem Buch über den Spessart-Wilderer Hasenstab hat er eine regelrechte Hasenstab-Welle ausgelöst: Der Bayerische Rundfunk, der Mitteldeutsche Rundfunk und das Bayerische Fernsehen haben wiederholt berichtet, der Stoff ist dramatisiert, ein Rundwanderweg eröffnet und ein Gedenkstein aufgestellt worden. Mit seinem Buch über den alten Diezel hat er die längst fällige Biografie dieses größten deutschen Jagdschriftstellers vorgelegt, dessen Werk unsere Jagd bis auf den heutigen Tag geprägt hat.
Staudinger ist Mitglied im Bayerischen Jagdschutz- uind Jägerverband, im Verein für Deutsche Wachelhunde, im Arbeitskreis Forstgeschichte in Bayern und im Forum lebendige Jagdkultur.