Von Volker Seifert
Marcel Jeanson und das fragmentarische zweite Leben einer großen Bibliothek
Die Jagd ist eine der ältesten kulturellen Praktiken Europas. Sie war Überlebensstrategie, höfisches Ritual, Machtdemonstration, wissenschaftlicher Erkenntnisweg und ästhetisches Motiv zugleich. Kaum eine andere Tätigkeit hat über Jahrhunderte hinweg so viele Texte, Bilder und Regeln hervorgebracht. In der Bibliothek des Marcel Jeanson verdichtet sich dieses vielschichtige Erbe zu einem einzigartigen kulturellen Archiv — nicht museal erstarrt, sondern von einer inneren Idee zusammengehalten.
Marcel Jeanson (* 02. Juni 1885 in Paris; 06. Mai 1942 in Paris), französischer Industrieller und leidenschaftlicher Bibliophiler, war kein Sammler im beiläufigen Sinn. Seine Bibliothek entstand nicht aus Zufall oder Prestige, sondern aus einer konsequenten intellektuellen Haltung. Er sammelte Bücher, um Zusammenhänge sichtbar zu machen. Für Jeanson war die Jagd kein isoliertes Thema, sondern ein Schlüssel zum Verständnis europäischer Kulturgeschichte: ein Prisma, durch das sich Naturverhältnis, Gesellschaftsordnung, Kunstsinn und Wissensproduktion zugleich betrachten lassen.
Bücher als kulturelle Ordnung
Der Kern der Jeanson-Bibliothek bestand aus jagdlicher Literatur im weitesten Sinne. Frühneuzeitliche Traktate über Falknerei und Parforcejagd standen neben französischen Klassikern des 18. Jahrhunderts und englischen Werken der Field Sports. In diesen Büchern wird Jagd nicht nur beschrieben, sondern begründet, legitimiert und ästhetisiert. Sie erscheinen als Handbücher der Lebensführung, als moralische Lehrstücke und als Spiegel gesellschaftlicher Hierarchien.
Jeanson interessierte sich dabei ebenso für den Text wie für das Objekt. Viele seiner Bücher waren bibliophile Ausnahmeexemplare: prachtvolle Einbände, handkolorierte Kupferstiche, luxuriöse Sonderdrucke auf Japanpapier. Das Buch selbst wurde Teil der Aussage. Es ging nicht nur darum, was über Jagd geschrieben wurde, sondern wie Wissen materialisiert und überliefert wurde.
Die Ornithologie als Grenzgebiet
Besonders aufschlussreich ist der zweite große Schwerpunkt der Sammlung: die Ornithologie. Hier zeigt sich Jeanson als Sammler an der Schwelle zwischen aristokratischer Jagdkultur und moderner Naturwissenschaft. Vögel erscheinen in seiner Bibliothek nicht nur als Beute, sondern als Gegenstand präziser Beobachtung, als ästhetische Form, als wissenschaftliches Problem.
Großformatige Werke mit minutiös ausgeführten Tafeln, frühe systematische Klassifikationen, kunstvolle Darstellungen von Gefieder und Flug — all dies macht die Bibliothek zu einem Ort, an dem sich der Übergang von der jagdlichen Praxis zur wissenschaftlichen Erkenntnis nachvollziehen lässt. Jagd und Wissen stehen hier nicht im Widerspruch, sondern in einem produktiven Spannungsverhältnis.
Der Sammler als Autor
Was die Bibliothek von Marcel Jeanson auszeichnete, war ihre innere Geschlossenheit. Sie folgte keiner enzyklopädischen Vollständigkeit, sondern einer klaren kulturellen Idee. In diesem Sinne war Jeanson weniger Besitzer als Autor seiner Sammlung. Die Auswahl, die Gewichtung, die Qualität der Exemplare formten ein stilles Argument: dass Jagd — jenseits aktueller Debatten — ein zentraler Bestandteil europäischer Selbstdeutung ist.
Diese Geschlossenheit machte die Bibliothek zugleich verletzlich. Nach Jeansons frühem Tod blieb sie zunächst unangetastet, doch ihr eigentliches Schicksal sollte sich erst Jahrzehnte später entscheiden.
Die Auktion als kulturelle Zäsur
In den späten 1980er-Jahren trat die Bibliothek aus dem privaten Raum in die Öffentlichkeit — im Ritual der Auktion. Die Wahl des Ortes war bezeichnend: Monaco, Bühne internationaler Sammler, Schnittpunkt von Tradition und Markt. Bei Sotheby’s wurden die Bestände in mehreren Etappen versteigert, beginnend 1987 mit den jagdlichen Werken (Première Partie: Chasse), gefolgt von der ornithologischen Sammlung.
Diese Auktionen waren weit mehr als Verkaufsereignisse. Sie wirkten wie eine öffentliche Offenlegung eines geistigen Lebenswerks. Die Kataloge zeichneten sich durch außergewöhnliche Präzision aus: bibliographische Vollständigkeit, Provenienzhinweise, kunsthistorische Einordnung. Sie machten sichtbar, dass hier nicht einzelne Kostbarkeiten angeboten wurden, sondern die Fragmente eines großen Ganzen.
Die Resonanz war international. Sammler, Institutionen und Händler aus Europa, Nordamerika und Asien konkurrierten um Werke, die lange im Verborgenen gelegen hatten. Viele Zuschläge übertrafen die Erwartungen. Jagdliteratur und naturkundliche Illustration rückten damit endgültig in den Fokus eines globalen Marktes, der ihren kulturellen Rang neu bewertete.
Die Auktion als zweite Existenz der Bibliothek
Das Schicksal großer privater Bibliotheken entscheidet sich selten im Stillen. Auch die Sammlung des Marcel Jeanson fand ihr Nachleben nicht in der geschlossenen Obhut einer Institution, sondern im öffentlichen, ritualisierten Raum der Auktion. Erst Jahrzehnte nach dem Tod ihres Schöpfers trat die Bibliothek aus der Intimität des Privaten heraus — und wurde zum Ereignis, zur Bühne, zur Projektionsfläche eines internationalen Sammlermarktes.
Die Wahl des Ortes war alles andere als zufällig. Monaco, jener symbolisch aufgeladene Schnittpunkt von aristokratischer Tradition, diskretem Luxus und globaler Mobilität des Kapitals, bot den idealen Resonanzraum für eine Sammlung, die selbst zwischen höfischer Jagdkultur und moderner Bibliophilie oszillierte. Hier, in den späten 1980er-Jahren, begann das zweite Leben der Bibliothek Marcel Jeanson.
Den Auftakt bildete 1987 die Versteigerung der jagdlichen Bestände bei Sotheby’s unter dem Titel Bibliothèque Marcel Jeanson – Première Partie: Chasse. Mehrere hundert Lose kamen zum Aufruf. Doch wer diese Auktion als bloßen Verkauf verstand, verfehlte ihren eigentlichen Charakter. Sie war vielmehr eine kuratierte Offenlegung eines Lebenswerks, ein Moment, in dem sich private Sammelleidenschaft in öffentliches Kulturgut verwandelte.
Der Auktionskatalog spielte dabei eine zentrale Rolle. Er war nicht bloß Begleitmaterial, sondern ein eigenständiges bibliophiles Dokument. Die Beschreibungen folgten höchsten wissenschaftlichen Standards: vollständige Titelangaben, Kollationen, Hinweise auf Provenienzen, Einbände, Druckzustände und ikonographische Besonderheiten. Zahlreiche Abbildungen machten sichtbar, dass es hier nicht allein um Texte ging, sondern um materielle Objekte mit historischer Aura. Für Bibliothekare, Forscher und Sammler wurde der Katalog rasch zu einer Referenz, unabhängig davon, ob sie an der Auktion teilgenommen hatten.
Die internationale Resonanz war beträchtlich. Bieter aus Europa, Nordamerika und Japan konkurrierten um frühe Traktate zur Falknerei, prachtvolle französische Jagdbücher des Ancien Régime, englische Klassiker der Field Sports. Viele Lose erzielten Preise, die die Erwartungen deutlich übertrafen. Damit wurde nicht nur der Marktwert einzelner Werke bestätigt, sondern auch eine kulturelle Neubewertung der Jagdliteratur vollzogen. Ein Genre, das lange als randständig galt, rückte ins Zentrum bibliophiler Aufmerksamkeit.
Ein Jahr später folgte die zweite große Etappe: die Versteigerung der ornithologischen Sammlung, ebenfalls bei Sotheby’s in Monaco. Unter dem Titel Deuxième Partie – Ornithologie trat jener Teil der Bibliothek in den Vordergrund, der die Grenzlinien zwischen Jagd, Wissenschaft und Kunst besonders eindrucksvoll verwischte. Großformatige Werke mit handkolorierten Tafeln, frühe systematische Vogelbeschreibungen, luxuriöse Ausgaben naturkundlicher Klassiker bestimmten das Bild.
Diese Auktion machte unmissverständlich deutlich, dass Jeanson die Ornithologie nicht als Nebenfeld, sondern als integralen Bestandteil seines kulturellen Programms verstanden hatte. Die erzielten Preise spiegelten den kunsthistorischen Rang der naturkundlichen Illustration wider und trugen maßgeblich dazu bei, Ornithologie endgültig als eigenständiges Sammelgebiet innerhalb der Bibliophilie zu etablieren.
Mit den Auktionen in Monaco war der Prozess jedoch nicht abgeschlossen. In den folgenden Jahrzehnten tauchten weitere Teile der Jeanson-Sammlung in internationalen Auktionshäusern auf, insbesondere bei Christie’s in London. Einzelne Werke, Zeichnungen und Blätter wurden erneut angeboten, oft losgelöst vom ursprünglichen Sammlungskontext. Die Bibliothek zerfiel in Fragmente — doch diese Fragmente trugen weiterhin den Stempel ihrer Herkunft.
Was dabei verloren ging, war die physische Geschlossenheit der Bibliothek. Was jedoch gewann, war ihre Präsenz im kulturellen Gedächtnis. Die Auktionen verwandelten eine private Sammlung in ein internationales Referenzsystem. Museen, wissenschaftliche Bibliotheken und hochspezialisierte Privatsammler wurden zu neuen Hütern einzelner Teile des Ganzen.
Besonders bemerkenswert ist, dass die eigentlichen dauerhaften Zeugnisse der Bibliothek nicht nur die verstreuten Bücher sind, sondern die Auktionskataloge selbst. Sie fungieren als Ersatzarchive, als kartographische Instrumente, mit deren Hilfe sich die innere Logik der Sammlung rekonstruieren lässt. In ihnen bleibt die Bibliothek als Idee erhalten — als gedankliche Ordnung, nicht als physischer Raum.
So wurde die Auktion, paradox genug, zum Ort der Bewahrung. Nicht trotz, sondern gerade durch die Zerstreuung erlangte die Bibliothek des Marcel Jeanson ihren kanonischen Status. Sie existiert fort als Maßstab, als Erinnerung daran, dass Sammeln eine kulturelle Handlung ist — und dass jede große Bibliothek mehr ist als die Summe ihrer Bücher.
Ein leises Vermächtnis
Die Bibliothek des Marcel Jeanson ist kein Monument aus Stein, sondern eines aus Papier, Wissen und Aufmerksamkeit. Sie erinnert daran, dass Sammeln eine Form des Denkens sein kann und dass Bücher mehr sind als Informationsträger. In ihnen bündeln sich Zeit, Geschmack, Ordnung und Weltbild.
In einer Gegenwart, die Wissen zunehmend fragmentiert, wirkt diese Bibliothek wie ein Gegenentwurf: als Plädoyer für Tiefe, Zusammenhang und kulturelle Erinnerung. Auch in ihrer Auflösung bleibt sie wirksam — als Idee einer vollkommenen Sammlung und als Maßstab für das, was Bibliophilie im besten Sinne sein kann.
Auktionskataloge
Bibliothèque Marcel Jeanson. Première partie : Chasse. Auction catalogue. Monte‑Carlo: Sotheby’s, 28 Fév. – 1 Mars 1987. 515 S., zahlreiche farbige und s/w‑Abbildungen. (Auktionskatalog der jagdlichen Bestände der Sammlung Jeanson)- Bibliothèque Marcel Jeanson. Première partie, chasse: Jours de vente, Samedi 28 février 1987 à 21 heures … et dimanche 1er mars 1987. Monte‑Carlo: Sotheby’s Monaco S.A., 1987. (Detaillierter Tages‑ und Lospreis‑Katalog)
- Bibliothèque Marcel Jeanson. Deuxième partie : Ornithologie. Auction catalogue. Monte‑Carlo: Sotheby’s Monaco, 16 Juin 1988. 205 S., zahlreiche Illustrationen. (Auktionskatalog der ornithologischen Bestände)
- Dessins de Stradanus: Extraits du catalogue de la Bibliothèque Marcel Jeanson Première Partie: Chasse. Monaco: Sotheby’s, 1987. (Spezial‑Auszug zu den Stradanus‑Zeichnungen aus Teil I)
- Sotheby's Livres et Manuscrits. Incluant Des Livres Provenant Du Chateau De Vaux-le-Vicomte et La Bibliothèque Marcel Jeanson. Mercredi, 15 Juin 2005