Von Volker Seifert

Die großen Jagdbibliotheken Europas – Auftakt einer Reihe

Mit diesem Beitrag beginnt eine Reihe über bedeutende historische Jagdbibliotheken – Sammlungen, die nicht nur Bücher vereinten, sondern auch den Geist und die Kultur der Jagd über Jahrhunderte hinweg bewahrten. Sie sind Zeugnisse einer Zeit, in der Jagd weit über das praktische Waidwerk hinausging und als Teil von Bildung, Kunstsinn und gesellschaftlichem Selbstverständnis galt. Den Auftakt bildet eine der berühmtesten französischen Privatsammlungen: die Bibliothèque de M. Henri Gallice.

Ein Champagnerhaus und die Leidenschaft für die Jagd

Henri Gallice (1853–1932), Miteigentümer des traditionsreichen Champagnerhauses Perrier-Jouët in Épernay, war ein Mann von feinem Kulturverständnis – Kunstliebhaber, Mäzen und leidenschaftlicher Jäger. Sein Interesse galt nicht nur der Jagd selbst, sondern auch ihrer Geschichte, ihrer Sprache, ihren Bildern und Mythen. Aus dieser Leidenschaft heraus entstand eine der größten privaten Jagdbibliotheken Frankreichs im frühen 20. Jahrhundert.

Die Sammlung hatte ihren Ursprung in den Auflösungen von sechs bedeutenden Jagdbibliotheken, die zwischen 1878 und 1901 in Frankreich versteigert wurden. Gallice erwarb dabei ganze Konvolute und ergänzte sie über Jahrzehnte mit gezielten Ankäufen auf Auktionen und bei Buchhändlern in Paris, London, Leipzig und Wien.

Umfang und Inhalt

Nach zeitgenössischen Berichten und den Katalogen der späteren Versteigerung umfasste Gallices Bibliothek mehrere tausend Bände – eine beeindruckende Enzyklopädie der Jagdkultur.

Sie enthielt:

  • seltene und teils unikale Werke zur Jagd, Falknerei, Zoologie, Waffenkunde, Hundezucht, Forst- und Naturgeschichte,
  • französische und europäische Klassiker des 16. bis 19. Jahrhunderts, darunter:
    • Jacques du Fouilloux: La Vénerie,
    • Charles Estienne,
    • Gaston Phébus: Le Livre de chasse,
    • Buffon,
    • sowie prachtvoll illustrierte Ausgaben jagdlicher Lehr- und Bildwerke.

Auch englische, deutsche und italienische Jagdschriften fanden ihren Weg in die Regale – Gallice war ein europaweit vernetzter Sammler mit Sinn für Qualität und kulturgeschichtliche Bedeutung.

Sein Interesse beschränkte sich nicht auf gedruckte Bücher:
Er sammelte Kupferstiche, Jagdszenen, Karten, handschriftliche Notizen und königliche Jagderlasse, die bis in die Zeit der französischen Monarchie zurückreichten.

Die berühmte Auktion

Nach Henri Gallices Tod im Jahr 1932 wurde seine Bibliothek aufgelöst. Die Pariser Auktion von 1933 erregte großes Aufsehen in bibliophilen Kreisen. Der mehrbändige Katalog erschien unter dem Titel:

Catalogue de la Bibliothèque de M. Henri Gallice — Chasse, Vénerie, Fauconnerie, Chiens, Armes, Forêts.
Paris, Librairie F. Lefrançois, 1933.

Dieser Katalog gilt heute selbst als Rarität. Er dokumentiert in mustergültiger Weise den Umfang, die Systematik und die ästhetische Qualität der Sammlung und dient Historikern der Jagdliteratur bis heute als unverzichtbare Quelle. Exemplare finden sich u. a. in der Bibliothèque nationale de France, im Musée de la Chasse et de la Nature und in einigen großen privaten Jagdbibliotheken Europas.

Bedeutung und Nachwirkung

Die Bibliothek Gallice gehörte zu den vollständigsten Sammlungen jagdlicher Literatur ihrer Zeit. Sie steht in einer Reihe mit den berühmten Bibliotheken des Baron de Lassus, Aristide Barbier de Montault oder den Jagdbeständen des Duc d’Aumale in Chantilly.

Sie dokumentiert das Selbstverständnis einer Epoche – die Verbindung von französischer Bourgeoisie und Aristokratie, von Naturbegeisterung, Kunstsinn und Bildung in der Belle Époque. Gallice verstand die Jagd als kulturelles Erbe, als ästhetische und moralische Schule, nicht bloß als Freizeitvergnügen.

Heutige Rezeption

Nur selten tauchen heute Exemplare aus der Sammlung Gallice im Antiquariatshandel auf. Sie sind leicht zu erkennen: Viele tragen ein kunstvolles Exlibris „Bibliothèque Henri Gallice“ – meist mit Hirsch, Jagdhorn und Weinranken als Anspielung auf Jagd und Champagner.

Solche Stücke gehören heute zu den gesuchten Objekten der jagdbibliophilen Sammlerwelt und stehen sinnbildlich für eine Kultur, in der Jagd, Literatur und Lebenskunst eine harmonische Einheit bildeten.

Ausblick

Mit Henri Gallice beginnt diese Reihe über die großen Jagdbibliotheken Europas – über Menschen, die Jagd nicht nur ausübten, sondern in Buchform bewahrten.
In den folgenden Ausgaben werden weitere bedeutende Sammler und ihre Bibliotheken vorgestellt – von Reichard von Reichardsperg über Artur Gunnar Tilander bis zu Kurt Lindner, dessen „Bibliotheca Tiliana“ als Krönung einer jahrhundertelangen bibliophilen Jagdleidenschaft gilt.