Von Volker Seifert
José Ortega y Gasset (1883–1955) gilt als einflussreicher Denker der spanischen Philosophie, doch seine philosophische Bedeutung ist begrenzt. Seine Werke, insbesondere Der Aufstand der Massen, sind eher kulturkritische Essays als systematische Philosophie. Ortega y Gasset bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Philosophie, Soziologie und Journalismus, ohne in einer dieser Disziplinen tief genug zu graben, um wirklich bahnbrechend zu sein.
Seine zentrale Idee, dass „Ich bin ich und meine Umstände“, also dass das Individuum nur im Kontext seiner Umgebung verstanden werden kann, ist kaum mehr als eine triviale Feststellung. Sie wirkt fast wie eine Binsenweisheit im Vergleich zu den tiefgründigeren Existenzanalysen eines Heidegger oder Sartre. Zudem bleibt sein Ratiovitalismus – die Idee, dass Vernunft und Leben eine untrennbare Einheit bilden – ein schwammiges Konzept, das nie zu einer stringenten philosophischen Methode ausgearbeitet wird.
Ein weiteres Problem ist sein historischer Determinismus: Ortega y Gasset sieht den Menschen als Produkt seiner Epoche und Kultur, aber diese Sichtweise bleibt oft impressionistisch und unsystematisch. Er liefert keine präzisen Werkzeuge zur Analyse historischer Prozesse, sondern gibt eher literarisch formulierte Reflexionen über Zeitgeist und Gesellschaft. In der Philosophiegeschichte bleibt er damit ein Nebendenker, dessen Ansichten eher als intellektuelle Anregungen dienen denn als tiefergehende Beiträge zur Erkenntnistheorie, Metaphysik oder Ethik.
Ortega y Gasset mag ein brillanter Stilist gewesen sein, doch philosophisch bleibt er oberflächlich. Sein Werk ist für den Leser angenehm und inspirierend, aber es hat nicht die argumentative Strenge oder methodische Radikalität, die große Philosophen auszeichnet. Deshalb bleibt seine Bedeutung in der Philosophiegeschichte marginal – ein Denker von lokalem und zeitgenössischem Interesse, aber ohne tiefgreifenden oder nachhaltigen Einfluss.
Ortega y Gassets Meditationen über die Jagd (Meditación de la caza) ist ein weiteres Beispiel für die philosophische Belanglosigkeit seines Werks. Es reiht sich in seine generelle Tendenz ein, Alltagsphänomene oder kulturelle Praktiken mit einer fast literarischen Eloquenz zu durchdringen, ohne jedoch eine tiefere theoretische Fundierung oder neue philosophische Erkenntnisse zu liefern.
In diesem Werk beschreibt Ortega die Jagd als eine ursprüngliche, fast mythische Erfahrung des Menschen, als eine Praxis, die den Jäger mit der Natur in Einklang bringt und ihm eine spezifische Form des Daseins eröffnet. Er betrachtet die Jagd als ein Zusammenspiel aus Instinkt, Technik und ästhetischer Erfahrung, eine Art Rückkehr zu einer vorsprachlichen, existenziellen Wahrheit. Doch diese Betrachtungen bleiben letztlich romantisch verklärte Reflexionen, die weder eine ernsthafte anthropologische Analyse noch eine erkenntnistheoretische Innovation darstellen.
Ortega versucht, die Jagd als eine Erfahrung zu legitimieren, die den Menschen mit seiner natürlichen Umwelt verbindet, doch seine Argumentation bleibt schwach. Die Vorstellung, dass der Mensch erst durch die Jagd zu einer tieferen Form des Seins findet, ist problematisch, da sie voraussetzt, dass andere Formen der Naturbegegnung weniger authentisch oder bedeutend wären. Diese Perspektive wirkt in einer Welt, in der die Jagd längst keine existenzielle Notwendigkeit mehr ist, anachronistisch und unkritisch gegenüber den ethischen Implikationen der Jagd in der Moderne.
Zudem fehlt dem Werk jegliche erkenntnistheoretische oder metaphysische Tiefe. Es bleibt eine poetische, kulturkritische Reflexion ohne systematischen Anspruch. Ortega liefert keine neuen Begriffe, keine methodischen Innovationen, sondern lediglich eine subjektive Betrachtung eines Phänomens, das er aus persönlicher Leidenschaft heraus überhöht.
Ortega y Gassets Jagdparadox – Ein ästhetisiertes Unverständnis des Tötens
Ortega y Gassets berühmter Ausspruch „Ich jage nicht, um zu töten, ich töte, um gejagt zu haben“ klingt zunächst wie eine raffinierte Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation. Doch bei näherer Betrachtung offenbart er eine problematische Verklärung der Jagd, die sowohl ethisch fragwürdig als auch philosophisch inkonsistent ist.
Die Illusion der Notwendigkeit
Gasset versucht, das Töten vom Zweck der Jagd zu lösen und es zu einer beiläufigen Konsequenz eines höheren, fast existenziellen Aktes zu stilisieren. Doch diese Trennung ist künstlich. Jagd ist, ob ästhetisch verklärt oder nicht, immer auf die Tötung eines Lebewesens ausgerichtet. Das Argument, man töte nur als Folge des Jagens, ist eine rhetorische Konstruktion, die den eigentlichen Kern – das gewaltsame Beenden eines Lebens – in den Hintergrund rückt. Ein Jäger, der nicht töten will, würde stattdessen nur Fährten lesen, beobachten oder fotografieren.
Ein romantisierter Instinkt
Ortega y Gasset idealisiert die Jagd als eine Art archaische, fast rituelle Handlung, die den Menschen mit seiner Natur verbindet. Doch genau hier liegt das Problem: Er verwechselt Instinkt mit Philosophie. Jagd mag ein ursprünglicher Trieb sein, doch ihre Rechtfertigung in einer modernen Gesellschaft verlangt mehr als den Verweis auf archaische Wurzeln. Seine Aussage suggeriert, dass die Jagd als Prozess über der Konsequenz des Tötens steht – doch diese Sichtweise blendet die ethische Verantwortung des Jägers aus.
Der Widerspruch der Erfahrung
Gasset behauptet, dass das Töten nicht der Zweck, sondern die Bedingung des Jagens sei. Doch warum sollte das Töten überhaupt notwendig sein, um das Jagen als solches zu erfahren? Das eigentliche Erleben – das Aufspüren, das Verfolgen, das sich Einsfühlen in die Natur – könnte genauso ohne die Tötung stattfinden. Indem er das Töten als logischen Endpunkt der Jagd setzt, widerspricht er seiner eigenen Idee, dass es dabei nicht um das Töten gehe.
Ein ästhetisiertes Denken ohne Konsequenz
Letztlich entlarvt sich Gassets Ausspruch als eine typisch intellektuelle Konstruktion: geschliffen formuliert, aber gedanklich unhaltbar. Es ist eine geschönte Entschuldigung für ein archaisches Verhalten, das er als kultivierte Praxis darstellt. Er macht aus einer blutigen Realität ein sprachliches Kunstwerk, das vor allem eines erreicht – es distanziert den Jäger von seiner Verantwortung.
Sein Satz wirkt auf den ersten Blick tiefsinnig, entpuppt sich aber als rhetorisches Feigenblatt für eine unreflektierte Jagdromantik. Wer wirklich verstehen will, was es heißt zu jagen, müsste sich auch der Konsequenz des Tötens stellen – ohne sich in sprachlichen Wendungen davor zu verstecken.
Ein Beispiel, das den Fehlschluss von Gassets Zitat verdeutlicht, wäre das Verhalten eines Marathonläufers, der sagt:
„Ich laufe nicht, um ins Ziel zu kommen, ich komme ins Ziel, um gelaufen zu sein.“
Diese Aussage klingt auf den ersten Blick tiefsinnig, ist aber logisch problematisch. Das Ziel zu erreichen ist nicht bloß eine zufällige Konsequenz des Laufens – es ist ein essenzieller Bestandteil davon. Wer wirklich nur „laufen“ wollte, könnte einfach irgendwo weiterlaufen, ohne eine Ziellinie zu überqueren. Doch in einem Marathon ist das Erreichen des Ziels eine notwendige Komponente des gesamten Unterfangens.
Genauso ist es bei der Jagd: Das Töten des Tieres ist nicht bloß eine beiläufige Folge des Jagens, sondern eine zentrale Bedingung. Gassets Zitat versucht, diesen Zusammenhang umzudrehen, indem es das Töten als bloßen Nebeneffekt erscheinen lässt, obwohl es ein integraler Bestandteil der klassischen Jagd ist – so wie das Ziel beim Marathon.
Man könnte die generellen Probleme in Gassets Denken umreißen mit Kants Ausdruck: "Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). Es stammt aus der Transzendentalen Ästhetik und findet sich in der Einleitung zur Transzendentalen Logik (A 51/B 75).)
Zusammenfassend zeigt sich auch in Meditationen über die Jagd, warum Ortega y Gasset philosophisch unbedeutend bleibt: Seine Werke sind elegant formulierte Essays ohne theoretische Strenge oder nachhaltige Originalität. Sie mögen anregend sein, aber sie bleiben letztlich Impressionen eines Intellektuellen, der sich mehr für die Schönheit seiner Gedankenflüsse interessiert als für die Härte der philosophischen Argumentation.