Von Volker Seifert
Johann Sebastian Bachs Arie „Schafe können sicher weiden“ (BWV 208, auch als „Jagdkantate“ bekannt) zählt zu den bekanntesten Beispielen barocker Liedkunst, die eine ruhige, pastorale Stimmung mit motivischer Klarheit verbindet. Die Übertragung dieses ursprünglich für Gesang und obligates Instrument (Flöte oder Oboe) mit Basso continuo komponierten Satzes auf Tasteninstrumente wirft zahlreiche Fragen auf, die über eine bloße klangliche Umsetzung hinausgehen. Sowohl Transkriptionen für Klavier als auch für Orgel stellen Versuche dar, Bachs Intentionen in den Rahmen moderner oder historischer Aufführungspraxis zu übertragen. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede in der Textur, Artikulation, Dynamikgestaltung und ästhetischen Wirkung, die der spezifischen Natur beider Instrumente geschuldet sind.
I. Instrumentenspezifik und historische Aufführungskontexte
Die Orgel und das Klavier repräsentieren zwei unterschiedliche Traditionslinien in der Tasteninstrumentenkultur. Während die Orgel zur liturgischen Sphäre gehört und durch ihr Registerreichtum und die Möglichkeit des gehaltenen Tones besticht, bietet das Klavier eine differenzierte dynamische Bandbreite und eine percussive Klangstruktur. Dies führt in der Transkription von „Schafe können sicher weiden“ zu grundlegend verschiedenen Herangehensweisen:
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Die Orgel erlaubt ein sostenuto der Melodielinie, wie es im vokalen Original intendiert ist, durch Registerkombinationen und kontinuierlichen Luftfluss.
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Das Klavier hingegen benötigt für dieselbe Wirkung eine Legato-Spielweise und die bewusste Gestaltung von voicing und Pedalgebrauch, wobei das Nachhallen des Klangs stets ein Resultat der mechanischen Dämpfung und nicht der Luftzufuhr ist.
II. Texturale Anpassungen und Stimmführung
In vielen Orgeltranskriptionen bleibt die ursprüngliche dreistimmige Struktur (Melodie, Oberstimme, Bass) erhalten, oft ergänzt durch eine mittlere Stimme zur harmonischen Füllung. Die Orgel erlaubt durch das Manualspiel und Pedalgebrauch die klare Trennung der Stimmen und deren dynamische Staffelung mittels Registrierungen.
Im Gegensatz dazu verlangen Klaviertranskriptionen häufig eine homophonere Setzweise, insbesondere in Ausgaben des 19. Jahrhunderts (z. B. von Egon Petri oder Ferruccio Busoni). Die Stimmführung ist hier nicht immer eindeutig getrennt, sondern wird als klangliche Gesamtfläche gedacht. Dies führt zu einer oft stärker akkordischen Ausarbeitung, die den melodischen Fluss zugunsten einer harmonischen Fülle betont.
Ein Beispiel findet sich in der Bearbeitung von „Schafe können sicher weiden“ durch Egon Petri, wo die Melodiestimme in der rechten Hand über oktavierte Harmonien geführt wird, was zu einer erhabenen Klangfülle führt, die auf der Orgel durch Registerkombinationen wie Prinzipal 8’ + Rohrflöte 4’ vergleichbar erzeugt werden könnte.
III. Artikulation und Ausdruck
Die Artikulation stellt ein zentrales Unterscheidungsmerkmal dar. Auf der Orgel werden Notenlängen mechanisch gleich erzeugt, ihre Wirkung hängt jedoch stark von der Atemstruktur des Registers, der Spieltechnik und der Raumakustik ab. Die Artikulation ist dabei häufig gesanglich phrasiert, mit deutlichem Legato-Einsatz.
Das Klavier dagegen bietet größere Möglichkeiten in der Dynamikgestaltung, einschließlich crescendo, diminuendo, und einer breiteren Palette an Anschlagsarten. So kann die Melodie durch rubato, agogische Akzente oder voicing stärker hervorgehoben werden als auf der Orgel, wo dies eher durch Registrierung als durch Dynamik geschieht.
Zudem erzeugt die percussive Natur des Klaviers eine direktere Klangansprache, während die Orgel durch den Windfluss eher eine fließende, getragenere Klangentfaltung besitzt. Diese Unterschiede führen zu unterschiedlichen Interpretationsansätzen: Während Orgelbearbeitungen meist feierlich-pastoral wirken, erhalten Klaviertranskriptionen mitunter einen romantisch-intimen Charakter.
IV. Ästhetische Wirkung und Zielsetzung
Die Wahl des Instruments beeinflusst maßgeblich die ästhetische Rezeption des Werkes. Auf der Orgel erscheint „Schafe können sicher weiden“ als Ausdruck barocker Repräsentationskunst, spirituell kontempliert, ruhig und getragen. Auf dem Klavier hingegen wird der Satz zum Salonstück, zur lyrischen Miniatur, wie sie sich in Transkriptionen für den Hausgebrauch etablierte.
Der emotionale Gehalt verändert sich: Was auf der Orgel als fromme Naturbetrachtung erklingt, wird auf dem Klavier zur emotionalisierten Innenschau, was nicht zuletzt der romantischen Klangästhetik des 19. Jahrhunderts geschuldet ist.
V. Fazit
Die Transkriptionen von „Schafe können sicher weiden“ für Klavier und Orgel verdeutlichen eindrücklich, wie Instrumentenspezifik, Spieltechnik und ästhetische Konventionen ein Werk unterschiedlich prägen können. Die Orgeltranskriptionen betonen das kontinuierliche Fließen und den liturgischen Charakter, während Klavierbearbeitungen auf dynamische Plastizität und romantische Klanglichkeit zielen. Beide Fassungen eröffnen unterschiedliche Perspektiven auf ein zentrales Werk der barocken Kantatenkunst und tragen dazu bei, seine Vielschichtigkeit auch außerhalb seines ursprünglichen Kontextes erfahrbar zu machen.
Um „Schafe können sicher weiden“ auf der Orgel authentisch und klanglich überzeugend wiedergeben zu können, sind bestimmte technische Voraussetzungen der Orgel notwendig. Diese betreffen insbesondere die Klangfarben, die Disposition, die Manualverteilung, und – wenn vorhanden – die Spielhilfen. Hier eine detaillierte Betrachtung:
1. Anzahl der Manuale
Für eine differenzierte und ausdrucksvolle Aufführung ist eine zweimanualige Orgel ideal, insbesondere wenn die Melodie und die Begleitung auf unterschiedliche Manuale verteilt werden sollen:
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Melodie (Flöte oder Oboe): auf dem Obermanual oder einem Solomanual mit solistischer Registrierung
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Begleitung (Continuo bzw. Begleitfiguren): auf dem Untermanual mit weicher, begleitender Registrierung
Eine einmanualige Orgel kann ausreichen, erfordert aber feinfühlige Registrierung und Anschlagsdifferenzierung zur Hervorhebung der Melodie.
2. Geeignete Register
Die klangliche Qualität hängt stark von der Verfügbarkeit feiner Soloregister und tragender Begleitregister ab:
Soloregister (für die Melodie):
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Rohrflöte 8’
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Traversflöte 8’
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Spitzflöte 4’
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Nasard 2 2⁄3’ (zur leichten Artikulation)
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Optional: Kombination aus 8’ + 4’ Flöten für mehr Präsenz
Begleitregister:
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Gedackt 8’
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Salicional 8’ (weich)
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Flöte 4’
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Wichtig: milde, transparente Klangfarbe, kein Plenum oder Prinzipalchor
3. Pedalwerk
Für diese Arie ist kein ausgeprägter Pedaleinsatz erforderlich, da die Bassführung einfach ist und oft in der linken Hand realisiert werden kann. Dennoch gilt:
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Ein Pedalwerk mit weichen 16’ und 8’ Registern (Subbass, Gedackt) ist hilfreich, um einen tragenden Bass zu erzeugen.
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In manchen Transkriptionen kann das Pedal sogar entfallen oder sparsam verwendet werden.
4. Dynamik und Ausdruck
Da die Orgel kein echtes crescendo/decrescendo kennt, sind folgende Voraussetzungen vorteilhaft:
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Schwellwerk (wenn vorhanden): ermöglicht dynamische Nuancierungen
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Koppeln (z. B. II/I, I/P): flexible Verteilung der Stimmen
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Spielhilfen: freie Kombinationen oder Setzeranlagen erleichtern Registrierungswechsel zwischen Strophen oder Abschnitten
5. Tonumfang
Das Werk erfordert keine extreme Lage. Standardumfang reicht:
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Manuale: mindestens C–g³
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Pedal: C–f¹ ausreichend
6. Stimmung und Intonation
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Barocke Stimmung (z. B. Werckmeister oder Kirnberger) kann eine wärmere Klangwirkung erzeugen.
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Bei moderner gleichstufiger Stimmung ist die Artikulation besonders sorgfältig zu gestalten, um den barocken Charakter zu bewahren.
7. Raumakustik
Der Raum sollte eine klanglich tragende, aber nicht überakustische Umgebung bieten:
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Zu viel Nachhall kann die Transparenz der Begleitstimmen mindern.
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Zu trockene Akustik lässt das Legato der Melodie verloren gehen.
Literaturhinweise:
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Schulenberg, David: The Keyboard Music of J. S. Bach, 2nd edition. New York: Routledge, 2006.
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Wolff, Christoph: Johann Sebastian Bach: The Learned Musician. New York: Norton, 2000.
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Keller, Hermann: Die Klavierwerke Bachs: Ein Beitrag zur Stil- und Formenlehre. Leipzig: Peters, 1950.
- Apel, Willi: The History of Keyboard Music to 1700, Indiana University Press, 1972.
→ Grundlegendes Werk zur Spielweise und Repertoireübertragung, auch auf Orgel. - Hill, George B.: Organ Transcriptions from the 17th and 18th Centuries: Context and Practice, The Diapason, Vol. 101, No. 6, 2010.
→ Fachartikel zur Praxis der Transkription vokaler Werke für Orgel, mit Fokus auf Registrierung und klangliche Umsetzung. - Rolf-Dieter Arens /Jörg Abbing: Orgelregister: Ein Handbuch zur Registrierung an Orgeln des Barock und der Romantik, Schott, Mainz 2004.
→ Detailliertes Kompendium zu Registrierung und Disposition barocker Orgeln mit konkreten Empfehlungen - Quentin Faulkner: J.S. Bach’s Keyboard Technique: A Historical Introduction, Concordia Publishing House, 1984.
→ Enthält auch Hinweise zur Übertragung von Werken zwischen Cembalo, Clavichord und Orgel - Jacques van Oortmerssen: Playing Bach on the Organ, Butz Verlag, 2010.
→ Praktische Hinweise zur Artikulation, Phrasierung und Registrierung speziell bei Bach-Aufführungen.