Von Volker Seifert
Die Verbindung zwischen Heideggers Daseinsbegriff in seinem Werk "Sein und Zeit" von 1927 und der Praxis der Jagd mag auf den ersten Blick nicht unmittelbar einleuchten, doch in einer tieferen philosophischen Betrachtung offenbart sich eine interessante Schnittstelle. Heideggers Dasein, das er als das „Sein des Menschen“ beschreibt, ist nicht ein isoliertes, bloßes Existieren, sondern ein In-der-Welt-Sein, das untrennbar mit seiner Umgebung, seinen Beziehungen und seiner Geschichte verbunden ist. Diese Grundstruktur des Daseins als ein „wirdendes“ und „gewordenes“ Wesen, das ständig in die Welt hineinwirkt und von ihr beeinflusst wird, lässt sich in einer gewissen Weise auf die Jagd übertragen. Die Jagd als Praxis, die den Jäger in unmittelbare Beziehung zur Natur und zum Wild stellt, reflektiert Aspekte des Daseins, die mit der Welt und ihrem Sein verbunden sind.
Für Heidegger ist Dasein ein ständiges Sich-Vorwegnehmen und Sich-Verstehen, ein „Hineinwerfen“ in die Welt, die es durch seine Handlungen zu gestalten sucht. In der Jagd vollzieht sich eine solche Weise des „Sich-Vorwegnehmens“: Der Jäger tritt in eine aktive, aber auch eine verändernde Beziehung zur Welt. In der Jagd wird das „Sein-zum-Tode“, das für Heidegger ein fundamentales Merkmal des Daseins ist, auf eine besondere Weise erfahrbar. Der Jäger konfrontiert sich mit dem Tod – nicht nur als einem abstrakten Konzept, sondern als einer konkreten Handlung. Diese Erfahrung des Tötens ist jedoch nicht nur eine einfache Konfrontation mit dem Ende, sondern auch eine Form des „Sich-Verstehens“ des eigenen Seins. Das Dasein ist für Heidegger stets im Hinblick auf das Ende, den Tod, auf sein eigenes Ende hin ausgerichtet. In der Jagd ist dieser Tod nicht nur theoretisch, sondern handlungspraktisch erlebbar, was das Dasein in seiner Endlichkeit und Finität unmittelbar spürbar macht.
Diese Auseinandersetzung mit der Endlichkeit ist nicht notwendigerweise ein nihilistischer Moment, sondern vielmehr eine vertiefte Erfahrung von Verantwortung und Bedeutung. In der Jagd wird der Jäger – ähnlich wie das Dasein – mit der Welt konfrontiert, die er nicht einfach in seiner Objektivität konsumiert, sondern mit ihr in eine wechselseitige Beziehung tritt. Heidegger beschreibt Dasein als immer schon in der Welt und immer schon mit anderen Wesen verbunden. So ist auch der Jäger nicht ein isolierter Akteur, sondern Teil eines Netzwerks von Beziehungen, das die Wildtiere, die Landschaft und die Gemeinschaft umfasst. Die Jagd offenbart sich als ein Moment des In-Beziehung-Tretens, in dem das Dasein seine Welt nicht nur vorfindet, sondern in einem aktiven, gestaltenden Akt ihr begegnet.
Darüber hinaus kann die Jagd in Heideggers Terminologie als eine Praxis des „Verstehens“ betrachtet werden. Der Jäger muss sich auf die Welt der Tiere einlassen, ihre Spuren deuten und ihre Verhaltensweisen verstehen. Diese Fähigkeit, in die Welt einzutauchen und sie zu „verstehen“, ist für Heidegger eine zentrale Dimension des Daseins. Die Jagd ist nicht nur eine physische Handlung, sondern auch eine epistemische – der Jäger muss Wissen erwerben, um in der Welt bestehen zu können. Dieses „Verstehen“ der Welt als ein sich-selbst-enthüllendes System ist eine der Schlüsselfunktionen des Daseins, das immer in der Welt bleibt und diese ständig durch Handeln und Verstehen neu konstituiert.
Die Jagd ermöglicht, so betrachtet, eine Form der „Verwirklichung“ des Daseins, die eng mit Heideggers Konzept des „Geworfenseins“ verknüpft ist. Dasein ist immer geworfen, nie selbst gewählt, es ist immer in eine Welt hineingeworfen, die es zu verstehen und zu deuten hat. In der Jagd wird dieses geworfene Dasein aktiv: Der Jäger wirft sich in die Welt des Waldes, der Tiere, der Natur. Er ist in eine Welt eingewoben, die er nicht vollständig beherrschen kann, sondern die er nur im Dialog, im handlungsorientierten Verständnis betreten kann. Die Jagd wird so zu einer ständigen Auseinandersetzung mit den Grenzen des eigenen Seins und einer immer wieder neuen Entdeckung der Welt, in der das Dasein wirkt.
Jedoch könnte man die Jagd auch als eine Form des „Verbergens“ verstehen, die Heidegger als eine der zentralen Strukturen des Seins beschreibt. In der Jagd, wenn der Jäger seine Beute jagt, tritt das Wild in eine bestimmte Weise in den Hintergrund. Es wird zu einem Objekt der Jagd, das seine ursprüngliche „Weltlichkeit“ verliert und sich dem Zugriff des Jägers entzieht, nur um in einem Akt des Tötens wieder zum „Sein“ zu kommen – jedoch in einer anderen Form. Diese Dynamik zwischen Verbergen und Entbergen, die in der Jagd spürbar wird, ist auch in Heideggers Philosophie von zentraler Bedeutung. Der Jäger schafft durch die Jagd eine Welt, in der die Dinge anders erscheinen, und in diesem Akt des „Verbergens“ und „Entbergens“ wird das Dasein wiederum zur Frage seiner selbst.
Letztlich lässt sich die Jagd als eine existenzielle Praxis verstehen, die im Einklang mit Heideggers Daseinsbegriff steht. Sie ist eine Form des In-der-Welt-Seins, die durch Handeln und Verstehen geprägt ist, die sich durch eine ständige Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und dem Tod auszeichnet, und die dem Dasein eine Möglichkeit gibt, sich selbst zu erfahren und zu verstehen. In dieser Hinsicht ist die Jagd nicht nur eine äußere Tätigkeit, sondern eine tiefere philosophische Praxis, die das Wesen des Daseins in seiner Beziehung zur Welt und zu anderen Wesen spiegelt. Sie wird so zu einer Art existenziellen Erfahrung, die das Dasein immer wieder mit seiner eigenen Unbestimmtheit und seinen Möglichkeiten konfrontiert.