Von Robert Spaemann (1927-2018)

Aus einer Promotionsfeier

Gebildete Menschen sind nicht nützlicher als ungebildete und ihre Karrierechancen sind nicht besser. Die öffentlichen Schulen sind nicht daran interessiert, gebildete Menschen hervorzubringen. Für gebildete Menschen ist das kein Einwand. Warum nicht? Was ist ein gebildeter Mensch?


1. Ein gebildeter Mensch hat den animalischen Egozentrismus hinter sich gelassen. Zunächst ist ja jeder von uns im Mittelpunkt seiner Welt. Er setzt alles Begegnende zur „Umwelt" herab und stattet es mit Bedeutsamkeiten aus, die die eigene Bedürfnisnatur widerspiegeln. Der Gebildete hat begonnen, die Wirklichkeit als sie selbst wahrzunehmen. Bilden heißt objektive Interessen wecken, sich bilden heißt „sich objektiv machen". So schreibt Goethe: „Sich mitteilen ist Natur. Mitgeteiltes auffassen wie es gegeben ist, ist Bildung." Etwas „auffassen, wie es gegeben ist", setzt voraus, daß wir wissen: es gibt außer uns noch andere Mittelpunkte der Welt und andere Perspektiven auf sie. Andere sind nicht nur Teil meiner Welt, ich bin auch Teil der ihren. Gebildet ist, wen es interessiert, wie die Welt aus anderen Augen aussieht, und wer gelernt hat, das eigene Blickfeld auf diese Weise zu erweitern.

2. Ein gebildeter Mensch ist im Stande, dies bewußt zu tun. Sein Selbstwertgefühl leidet nicht darunter, sondern wächst damit zugleich. Der  Ungebildete nimmt sich selbst sehr ernst und sehr wichtig, aber sein Selbstwertgefühl, seine Selbstachtung ist gleichzeitig häufig gering. Der Gebildete weiß, daß er nur „auch einer" ist. Er nimmt sich nicht sehr ernst und nicht sehr wichtig. Aber da er sein Selbstwertgefühl nicht aus dem Vergleich mit anderen bezieht, hat er ein ausgeprägtes Gefühl für seinen eigenen Wert. Selbstrelativierung und Selbstachtung sind für ihn kein Widerspruch. Überhaupt ist diese Paradoxie kennzeichnend für sein Weltverhältnis. Fast nichts ist für ihn ohne Interesse, aber nur sehr weniges wirk-
lich wichtig.

3. Das Wissen des gebildeten Menschen ist strukturiert. Was er weiß, hängt miteinander zusammen. Und wo es nicht zusammenhängt, da versucht er einen | Zusammenhang herzustellen, oder wenigstens zu verstehen, warum dies schwer gelingt. Er lebt nicht so in verschiedenen Welten, daß er bewußtlos von der einen in die andere hinübergleitet. Er kann verschiedene Rollen spielen, aber es ist immer er, der sie spielt.

4. Der gebildete Mensch spricht eine differenzierte, nuancenreiche Umgangssprache. Er beherrscht oft eine Wissenschaftssprache, aber er wird von ihr nicht beherrscht und braucht wissenschaftliche Terminologie nicht als Krücke in der Lebensorientierung und in der Verständigung mit anderen. Er sagt: „Ich möchte" oder „Ich will" und nicht: „Ich bin motiviert." 'Vor allem meidet er den psychologischen Jargon. Psychologie — wie jede Wissenschaft —handelt von Bedingungszusammenhängen. Sie ist wesentlich passivisch. Spontaneität ist für sie trotz gegenteiliger Beteuerungen kein Gegenstand. Wessen Lebenswelt so sehr wissenschaftlich kolonialisiert ist, daß er sich nicht traut, einfache Sachverhalte einfach auszudrücken und zu sagen wie ihm zumute ist, der ist nicht gebildet. Und auch der ist es nicht, der, sobald er die Krücke der wissenschaftlichen Terminologie fallen läßt, in den erhabenen oder in den ordinären Ton fällt.

5. Der gebildete Mensch zeichnet sich aus durch Genußfähigkeit und Konsumdistanz. Schon Epikur wußte, daß beides eng zusammenhängt. Wer sich wirklich freuen kann an dem, was die Wirklichkeit ihm darbietet, braucht nicht viel davon. Und wer mit wenigem auskommt, hat die größere Sicherheit, daß es ihm selten an etwas fehlen wird. Die Abwesenheit einer „Naßzelle" kann denjenigen nicht empören, der weiß, daß Goethe und Nicolaus Cusanus keine solche hatten, Menschen, deren Umgang er dem vieler seiner naßzellenbesitzenden Zeitgenossen vorziehen würde.

6. Der gebildete Mensch kann sich mit etwas identifizieren, ohne naiv oder blind zu sein. Er kann sich identifizieren mit Freunden, ohne deren Fehler zu leugnen. Er kann sein Vaterland lieben, ohne die Vaterländer anderer Menschen zu verachten, vor allem diejenigen Vaterländer, die ebenfalls von ihren Bürgern geliebt werden. Das Fremde ist ihm eine Bereicherung, ohne die er nicht leben möchte, kein Grund, sich des Eigenen zu schämen. Identifikation bedeutet für ihn nicht Abgrenzung, sondern „Oikeiosis", Anverwandlung. Und wenn die christliche Liturgie in der Osternacht davon spricht, daß Gott „unsere Väter, die Kinder Israels in dieser Nacht trockenen Fußes durch das Rote Meer geführt hat", so fällt es ihm weder schwer „unsere Väter" noch „in dieser Nacht" zu sagen. Biologische Kontinuität ist für ihn nicht eine Bedingung der Identifikation.

7. Der gebildete Mensch kann bewundern, sich begeistern, ohne Angst, sich | etwas zu vergeben. Insofern ist er das genaue Gegenteil des Ressentimenttyps, von dem Nietzsche spricht, des Typs, der alles klein machen muß, um sich selbst nicht zu klein vorzukommen. Er kann neidlos Vorzüge bewundern und sich an ihnen freuen, die er selbst nicht besitzt. Denn er zieht sein Selbstwertgefühl nicht aus dem Vergleich mit anderen. So fürchtet er auch nicht, durch Dankbarkeit in Abhängigkeit zu geraten. Ja, er hat nicht einmal etwas gegen Abhängigkeit von Menschen, denen er vertraut. Er zieht das Risiko, von seinen Freunden enttäuscht zu werden, der Niedertracht vor, ihnen zu mißtrauen.

8. Der gebildete Mensch scheut sich nicht zu werten, und er hält Werturteile für mehr als für den Ausdruck subjektiver Befindlichkeit. Er beansprucht für seine eigenen Werturteile objektive Geltung. Gerade deshalb ist er auch bereit, sie zu korrigieren. Denn was keine objektive Geltung  beansprucht, braucht auch nicht korrigiert zu werden. Der gebildete Mensch hält sich für wahrheitsfähig, aber nicht für unfehlbar. Kant hielt  ästhetische Urteile für ebenso objektiv gültig wie unbeweisbar. Gebildete Menschen haben im Umgang mit der Welt genügend  Unterscheidungsvermögen entwickelt, um sich Qualitätsurteile zuzutrauen. Sie wissen, daß es Kunstwerke gibt, die bedeutender sind als andere, und Menschen, die besser sind als andere. Und wenn sie das auch nicht beweisen können, so zeigt sich doch, daß gebildete Menschen zu einer
zwanglosen, unwillkürlichen Übereinstimmung in den meisten dieser Urteile kommen.

9. Der gebildete Mensch weiß, daß Bildung nicht das Wichtigste ist. Ein gebildeter Mensch kann sehr wohl zum Verräter werden. Die innere Distanz, die ihn auszeichnet, macht ihm den Verrat sogar leichter als anderen Menschen. Bildung schafft eine menschenwürdige Normalität. Sie bereitet nicht auf den Ernstfall vor und entscheidet nicht über ihn. Schiller unterschied zwischen der „moralischen" und der „vollen anthropologischen Schätzung". Jemand kann ein wohlgeratener Mensch sein und doch der Versuchung unterliegen, wortbrüchig zu werden. Jemand kann ein kümmerlicher Mensch oder ein Schlawiner sein, und im entscheidenden Augenblick anständig bleiben und seinen Mitmenschen nicht im Stich lassen. Nicht jeder, der in Ausnahmesituationen sittlich handelt, macht dabei im übrigen eine gute Figur. Der Gebildete hat eine Abneigung dagegen, das Gute mit Schweiß auf der Stirn zu tun. Manchmal sieht das Gute nicht mehr schön aus, und da schreckt er leicht zurück. Wirklich gebildet ist nur der, der dies weiß. Und wenn er schon selbst sich nicht die Hand abhackt und das Auge ausreißt, um ins Himmelreich einzugehen, so schätzt er den, der dies tut, doch nicht geringer ein als den, der mit heilen Gliedmaßen zur Hölle fährt. |

10. Es gibt aber einen Punkt, da kommen Gebildetsein und Gutsein zwanglos überein. Der gebildete Mensch liebt die Freundschaft, vor allem die Freundschaft mit anderen gebildeten Menschen. Gebildete Menschen haben aneinander Freude, wie Aristoteles sagt. Überhaupt haben sie mehr Freude als andere. Und das ist es, weshalb es sich – unabhängig von den Zufälligkeiten gesellschaftlicher Wertschätzung – lohnt, ein gebildeter Mensch zu sein.

Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, Jg. 24, 1994/95, S. 34-37