Von Christoph Boll

Von der Antike bis zur Urbanisierung, von der höfischen Angelegenheit zu aktuellen gesellschaftlichen Konflikten: Jagd und Jäger, Wild und Wald im Spiegel der Literatur im jeweiligen Zeitgeist und der Wirklichkeit. Eine Serie für natur+mensch.

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Ein Jäger muss kein Prinz sein, um eine Prinzessin zu heiraten. Das lehrt die Geschichte „Der gelernte Jäger“. Sie gehört zu jenen mehr als 200 Sagen und Märchen, die die Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesammelt haben. Wie der Bayerische Landesjagdverband festgestellt hat, kommen in fast der Hälfte von ihnen die Themenbereiche Natur, Wild und Wald, Jagd und Jäger vor. Da es stets mittelalterliche Geschichten sind, ist der gesellschaftlichen Realität jener Zeit folgend der König der Eigentümer des Waldes und folglich der Herr der Jagd. Waidwerk ist also immer höfische Angelegenheit. Und es führt durchaus häufiger zur Heirat. So findet der König oder der Prinz als angehender König in den Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“, „Die sechs Schwäne“ und „Allerleirauh“ auf der Jagd seine zukünftige Frau. Jagd ist der standesgemäße Rahmen für lebenswichtige und staatstragende Entscheidungen.

Als Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit sind Sagen, Fabeln und Märchen besonders nah an der Masse der Bevölkerung. Auch wenn die Brüder Grimm vor der Veröffentlichung die Märchen in unterschiedlichem Maße überarbeitet und stilistisch geformt haben, darf unterstellt werden, dass aus ihnen in gehörigem Umfang der Volksmund spricht. Für den ist durchaus möglich, dass der Jäger eine Prinzessin heiratet, wie er es im Märchen „Der singende Knochen“ vermag. Dabei erklärt nicht allein die Befreiung des Landes von einem Ungeheuer – in diesem Fall einem großen Wildschwein – den sagenhaften gesellschaftlichen Aufstieg. „Der gelernte Jäger“ übt mit der Tat nicht nur ein königliches Privileg aus, sondern er wird nach dem Tod des Herrschers sogar dessen Nachfolger.

Ritterlichkeit und Waidgerechtigkeit gehen Hand in Hand

Der Jäger ist also sowohl als Ehemann der Königstochter als auch auf dem Thron standesgemäß. Und das, obwohl er doch eigentlich nur Teil des Hofgesindes ist. Ihn adelt seine Profession, das edle Waidwerk. Es ist ein hohes Amt und beansprucht höchste Ehre. Im Märchen sind deshalb Jäger nahezu immer Menschen mit aufrechter, ehrlicher Gesinnung. So folgt der Jäger auch nicht dem Befehl, Schneewittchen zu töten, sondern hat Mitleid und lässt sie im Wald frei. Ritterlichkeit und Waidgerechtigkeit gehen Hand in Hand. Beide entspringen einer inneren, einer seelischen Haltung. Sie ist die Basis eines sittlichen Standards, der einen gesellschaftlichen Kodex normiert. Wie das Turnier der Ritter folgt auch die Jagd festen Regeln.

Wer die rechte innere Haltung nicht hat, gleichwohl aber jagt oder sich als Jäger ausgibt, ist ein gemeiner Schuft, ein mieser Charakter. Dazu zählt der Rattenfänger von Hameln, der die Kinder im Jägerkleid entführt. In späterer Zeit kann sogar der die Obrigkeit vertretende Berufsjäger der Schuft sein, wenn er zum Handlanger der Repression wird. Es kommt in diesem Fall also zur verkehrten Welt, in der sogar der Wilderer – zum Freischützen mutiert – das Gute repräsentiert. Das Lied vom Georg Jennerwein belegt dies beispielhaft. Noch Marie von Ebner-Eschenbachs 1883 veröffentlichte Geschichte vom Krambambuli hatte die gegensätzliche Sichtweise. Selbst der leibhaftige Teufel kann sich wie in Jeremias Gotthelfs Novelle „Die schwarze Spinne“ (1842) als Jäger verkleiden.

Selbst der böse Wolf hat menschliche Züge

Auch der verbrecherische Koch geht im Märchen „Die Nelke“ auf die Jagd „wie ein vornehmer Mann“, der er aber eben nicht ist. Er verstellt sich also, wenn er jagt, maßt sich eine innere Haltung an, die ihm nicht eigen ist. Wer sich unberechtigt den Jagdrock anzieht, muss entlarvt werden. Weil die Jagd in dieser Weltsicht – anders als heute – immer eine Männerdomäne ist, gilt das selbst für die Frau mit den besten Motiven. Das zeigt die Geschlechterprobe im Märchen „Die zwölf Jäger“.

Dem entsprechen die damals bekannten Grundlinien des Jagdmotivs in der deutschen Literatur: Jagd als Privileg der männlich dominierten oberen Gesellschaftsschichten, Empathie mit den notleidenden Tieren, Anthropologisierung der Tiere selbst durch Übertragung. Im Märchen hat eben selbst der böse Wolf menschliche Züge. Er personifiziert wie in „Rotkäppchen“ und „Der Wolf und die sieben Geißlein“ das Niederträchtige und Hinterhältige. Dem tritt der Jäger in seiner Beschützerrolle entgegen. Folglich ist nur konsequent und gerecht, dass der Jäger kommt, den Wolf, der Rotkäppchen gefressen hat, aufschneidet und auf diese Weise die Wendung zum Guten bringt.

Da passt ins romantische Bild, dass auch die Diskussion jener Zeit um den Berufsstand des Jägers diesen in besonderer gesellschaftlicher Verantwortung sah. Nachdem schon Heinrich Wilhelm Döbels „Neueröffnete Jäger-Practica“ (1750) sich mit der Basis der Jägerausbildung beschäftigt hatte, schlug Johann Jacob Büchtings „Kurzgefaßter Entwurf der Jägerey“ (1756, 1768, 1814) einen neuen Ausbildungsstandard vor. In der von ihm verfassten Einleitung betont der Hallenser Mathematiker Johann Joachim Lange die moralische Verpflichtung des Jägers, der sachverständig, treu, einfühlsam, standhaft und in Gerichtsfällen verschwiegen zu sein habe.