Von Christoph Boll
Von der Antike bis zur Urbanisierung, von der höfischen Angelegenheit zu aktuellen gesellschaftlichen Konflikten. Jagd und Jäger, Wild und Wald im Spiegel der Literatur im jeweiligen Zeitgeist und der Wirklichkeit. Eine Serie für „natur+mensch“.
Die Jagd ist so alt wie die Menschheit und hat ihren Niederschlag gefunden in allen künstlerischen Ausdrucksformen. Sie beschäftigt kreative Menschen seit der Höhlenmalerei in allen Facetten. Die antiken Göttermythen aus dem griechisch-römischen Kulturkreis kennen eigene Gottheiten für die Jagd, mal heißt sie Artemis, mal Diana. Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia führt 23 Einträge in der Kategorie Jagdgottheit auf. Jagd und Jäger, Wild und Wald sind bedeutsam für das Leben der Menschen und mannigfach Motiv in Musik, fiktionaler Literatur, Film und bildender Kunst. Sie spiegeln den Zeitgeist und die gesellschaftliche Wirklichkeit, sind beidem oft genug voraus und prägen sie mit. Dabei gilt: Je mehr die Menschen mit und von der Jagd leben, desto mehr wird sie als selbstverständlich dargestellt.
Mit der Urbanisierung aber setzt ein Entfremdungsprozess ein. Vielfältig sind bis dahin die Kontinuitäten und Umbrüche in der deutschsprachigen literarischen Betrachtung des Waidwerks. Dabei leuchtet immer wieder auch ihre politische Relevanz auf. An die aber dachte Friedrich von Hardenberg nicht, besser bekannt unter seinem Dichternamen Novalis, als er sich fest überzeugt zeigte, es gebe einen anderen als den rein wissenschaftlichen Zugang zur Natur und damit auch zu Wild und Jagd. Er schrieb Ende des 18. Jahrhunderts: „Der Poet versteht die Natur besser, wie der wissenschaftliche Kopf.“ Da behauptet der Romantiker, es gebe jenseits der analytischen und vermeintlich mathematisch exakten Naturwissenschaft eine Sichtweise, die nicht nur anders, sondern sogar erkenntnisreicher ist. Sinnbildlicher Ort, diese andere Wahrheit zu erleben, ist lange Zeit der Wald. In ihm lässt sich die Macht des Mystischen und Mythischen erfahren, wie sie Novalis und Freunden auch in der einfachen Kunst des Volkes begegnet, die sie als ursprünglich verstehen.
In der Literatur geht Jagdverstand einher mit edler Gesinnung
Da ist nur konsequent, dass es die Spätromantiker Jakob und Wilhelm Grimm sind, die Anfang des 19. Jahrhunderts mehr als 200 Sagen und Erzählungen zusammentragen. Ihre literarische Sammlung der Volkskunst enthält Kinder- und Hausmärchen, also ausdrücklich eine Kunstform und nicht unmittelbares Erleben. Diese Bipolarität oder Dualität ist bereits damals nicht mehr zu überwinden. Das einst ungebrochene Verhältnis zur Umwelt ist auch in der Romantik längst zerstört.
Das ist bis ins späte Mittelalter ganz anders. In der Literatur geht Jagdverstand einher mit edler Gesinnung. Der gemeine Mann versteht nichts von dieser Kunst. Jagd ist im Gegensatz zu einer heute weit verbreiteten Ansicht alles andere als schmuddelig. Sie wird vielmehr idealisiert, ist der standesgemäße Rahmen für lebenswichtige und staatstragende Entscheidungen. Die Autoren haben dabei seit der Frühzeit ein ungebrochenes Verhältnis zu ihrem Objekt. Erst in der Aufklärung, auf die die Romantik die direkte Antwort ist, ändert sich Mitte des 18. Jahrhunderts die Perspektive. Die bürgerliche Gesellschaft mit ihren sozialen Konflikten rückt zunehmend in das Zentrum der Betrachtung. Je weiter später die Industrialisierung und die Entwicklung der urbanen Gesellschaft voranschreiten, desto größer sind die Brüche und Widerstände in der Wertung des Waidwerks.
Deshalb ist der schrittweise Abschied von der höfischen Dichtung zugleich zu verstehen als ein literarisches Abrücken von der höfischen Welt, zu der ganz selbstverständlich die Jagd gehört. Sie ist Teil der Gesellschaftsrituale. So wird Siegfried im Nibelungenlied hinterrücks während der Jagd ermordet. Dieser Gewaltakt stört nicht nur den gewohnten und routinemäßigen Ablauf der Jagd, sondern steht zugleich als Sinnbild für die Zerstörung der Gesellschaft. Die Welt gerät aus den Fugen. Beides, die Störung der Jagd und der gesellschaftlichen Ordnung, geht Hand in Hand. Das eine ist geradezu gleichbedeutend mit dem anderen.
Dem königlichen Jägermeister überlegen
Das zeigt sich bereits im ersten deutschsprachigen höfischen Roman des Mittelalters, dem gegen Ende des 12. Jahrhunderts von Heinrich von Veldeke verfassten Eneasroman. Die Geschichte: Ein Unwetter beeinträchtigt den Jagdablauf derart, dass der Titelheld und die schöne Dido von den anderen getrennt werden und in der Folge miteinander Geschlechtsverkehr haben. Das ist der Ausgangspunkt etlicher Probleme, denn Dido ist bereits einem anderen Mann versprochen. Auch hier gilt: Ordnungsgemäßer Jagdablauf und Einhaltung der zwischenmenschlichen Normen und Konventionen sind eins. Sie können nur gemeinsam funktionieren oder beide scheitern.
Auch Gottfried von Straßburgs Titelheld Tristan entdeckt die Minnegrotte während der Jagd, die in dem Versroman aus dem 13. Jahrhundert wie ein Leitmotiv das gesamte Werk durchzieht. Nicht durch seine Kriegs-, sondern durch seine Jagdkunst gewinnt Tristan die Sympathie des Hofes und die Zuneigung von König Markes. In diesen Kreis gelangt er während auf einen Hirsch gewaidwerkt wird. Mit seiner Fertigkeit des Entbästens – heute würden wir sagen: des Aus-der-Decke-Schlagens und Zerwirkens – erweist sich der Jüngling sogar dem königlichen Jägermeister überlegen. Das Beherrschen der Jagdkunst ist also Ausdruck von Bildung und vornehmen Verhaltens. Sie beeindruckt und lässt in Tristan, der sich als Kaufmannssohn ausgibt, den Edelmann durchscheinen.
Quelle: „natur+mensch“